Der Maler Nolden
Um sich ein Bild über den Maler Thomas Nolden und seine Bilder zu machen, gibt es eine Reihe von Möglichkeiten.
Ein Kunstkritikerkollege hat mir verraten, dass, wenn er über die Ausstellung eines ihm nicht näher bekannten Malers berichten soll, folgendermaßen vorgeht: Bevor er nur einen einzigen Blick auf die Bilder wirft, schnappt er sich einen Katalog, den er auf der vorletzten Seite aufschlägt, um sich erstmal einen Überblick über den Stammbaum des Malers zu verschaffen: Über den Stall aus dem er stammt, wo er ausgestellt hat, wer ihn schreibend gepriesen hat und von wem seine Bilder zu welchem Preis gekauft wurden und wo sie hängen. Methode: Verorten im Kunstsystem.
Eine andere Möglichkeit: Man stelle sich vor die Bilder von Thomas Nolden und denke nach: Habe ich so etwas schon mal gesehen, so oder so ähnlich? Diese eher Verlegenheit signalisierende, auf Vernissagen häufig zu hörende Floskel Erinnert-mich-irgendwie-an..., wird allerdings dann interessant, wenn man sich klarzumachen versucht, worin sich die Bilder Noldens von denen, die diffus durch die Bilderdepots der Erinnerung geistern, unterscheiden. Methode: Vergleichendes, erinnerndes Sehen.
Die dritte, und fraglos zeitaufwendigste Möglichkeit, ist, sich entspannt vor die Bilder zu setzen und versuchen, sie nicht dazu zwingen, etwas zu sagen, zu meinen, zu bedeuten. Die Bilder einfach da sein lassen. Und sich einem Zustand hinzugeben, den man als interesselose Langeweile bezeichnen könnte.
Bei diesem Langzeittest öffnen sich die Bilder dann irgendwann von selbst und füllen sich mit Bedeutung. Methode: Einfühlendes Schauen.
Drei hermeneutische Verfahren also: Verorten im Kunstsystem, Vergleichendes Sehen und Einfühlung. (Methode eins kreist den Künstler ein, bewertet das, was der Soziologe Pierre Bourdieu das symbolische Kapital nannte, und wendet sich dann kurz dem Werk zu.)
Fangen wir mit der Möglichkeit Nummero 1 an. Der Stammbaum, der Stall, die Lehr- und Wanderjahre: Geboren 1965 in Köln. Kunststadt!; 1988-94 Städelschule. Studiert bei Thomas Baryle, (eher grafisch, seriell?) und Raimer Jochims, (Farbtheoretiker, fast Farbmystiker?); dann 91-92 in N.Y. an der Cooper Union School of Art bei Hans Haacke.
Hans Haacke? Ein Konzeptkünstler. Ein politischer Künstler, der gesellschaftliche Prozesse und Strukturen ästhetisch sichtbar macht.
Wie passt das alles zusammen? Und Nolden, der Maler, der Schafe malt - in New York? Möglichkeit zwei: Assoziation, Erinnerungen, Vergleiche. Erstens: das Motiv.
Das Schaf in der Kunst ist ungefähr so alt wie die Kunst selbst. Von den antiken Lammträgern, durch die zweitausendjährige Bildergeschichte des Lamm Gottes, über die holländischen Schafmaler (wie Dujardin, Cuyp, Potter, Berchem, Visscher), die Münchner Schule, zu Zügel, Koester, Thoma, und selbst im 20 JH. tauchen vereinzelt noch Schafe im Bild auf. Bei Karin Kneffel zum Beispiel oder eben bei Thomas Nolden.
Doch wie unterscheiden sich die Bilder von Nolden von all den anderen gemalten Schafen, Lämmern und Ziegen der Kunstgeschichte?
Sowohl die alten Holländer als auch die Tiermaler der Münchner Schule versuchten das Schaf auf der Leinwand lebendig werden zu lassen. Das weiche Fell als Augenschmeichler, vor saftigen Hintergrundsweiden. Und bei Nolden? Kein Symbol, keine Folklore, keine Anekdoten, kein romantisches Zurück-zur-Natur-Gefühl. Stattdessen: Eine sehr begrenzte, disziplinierte Farbskala, keine fröhlichen, ins Auge stechenden Kontraste. Viel schwierig zu handhabendes Grün. Braun, grau, ein ins Violett gehendes Rot. Die Pinselschrift modelliert die Gegenstände nicht, ja, sie missachtet die Konturen der Form. Auch perspektivische Tiefe interessiert Nolden nicht. Ob fern, ob nah, die Pinselschrift bleibt gleich, bleibt in der Fläche. Auch Farbperspektive, vereinfacht: vorne warm hinten kalt, gibt es hier nicht. Eine Malerei, so schreibt Uwe Degreif, deren „durchgängig herber Malduktus über das Momenthafte und Atmosphärische hinausweist.“ Und trotzdem: Die Bilder wirken räumlich, ohne konventionelle Perspektive und Helldunkelmodellierung. Ein Farbraum mit eigenen Gesetzen?
Ein Maler, der sich mit derartigen Phänomenen sein ganzes Leben lang beschäftigt hat, Tag für Tag vor dem Motiv, ein Maler, der am Ende seines Lebens den Wunsch äußerte, wenigstens einmal ein perfektes Bild zu malen, war Paul Cézanne. Was macht dessen Malerei so anders? Wenn man ein Früchtestillleben von Cézanne mit dem eines Holländischen Meisters vergleicht, so gibt es neben allen stilistischen und maltechnischen Differenzen einen wichtigen Unterschied, den zu erkennen es keiner kunsthistorischen Vorbildung bedarf. Während einem beim Betrachten des Holländers das Wasser im Munde zusammenläuft, bleibt dieser Effekt bei Cezannes Fruchtschalen aus. Diese Früchte sind schön, aber nicht essbar, die sind aus Farbe.
Ähnlich die Schafe von Thomas Nolden. Sie sind nicht aus flauschigem Fell, sie sind aus Farbe, wie auch der Hintergrund, der nicht aus Gras ist, sondern ebenfalls aus Farbe ist. Es geht um eine Malerei, die gesehene Natur nicht abbildet, sondern sie übersetzt. Nolden vermeidet die stoffliche Illusion. Die Tiere sind aus Farbe, wie der Hintergrund. Es gibt kein konventionelles Davor und Dahinter, Farbe und Pinselstrich schaffen einen vom optischen Bildraum unabhängigen Raum. Farbräume tun sich auf! Und diese Farbräume zu erschaffen, das ist die Schwierigkeit, mit der der Maler vor dem Motiv kämpft. Farbwerte abwägen, jedes Detail ausbalancieren, ohne dass das große Ganze aus dem Gleichgewicht gerät. Das geht nicht immer gut, da können problematische Stellen bleiben, die besser unbemalt bleiben. Das war bei Cezanne so und ist bei Thomas Nolden nicht viel anders.
Es gibt Leerstellen im Bild. Diese Art des Übersetzens in eine „Malerei parallel zur Natur“ geht natürlich zu Lasten der abbildhaften Detailtreue, die nach wie vor für viele Zeitgenossen das A und O der Kunst ist. Von Cezanne Porträtierte haben sich in der Regel in seinen Bildern nicht wieder erkannt. Bei seinen Badenden sind Männlein von Weiblein nicht zu unterscheiden.
Auch Nolden versucht vor dem Motiv jedes einzelne Schaf neu zu erschaffen. Nicht als Individuum oder anekdotisches Apercu. Sondern als Gebilde aus dem Geiste der Malerei.
Wie passen dann die großen Formate zu dieser Behauptung, wird man sich jetzt fragen? Bei diesen Bildern greift er ja nicht auf Gesehenes zurück, hier übersetzt er nicht von der Natur in die Malerei! Hier setzt Nolden Erfahrungen, die er vor dem Motiv gemacht hat in eigenen innere Bilder um. Er schafft malerische Räume, die unaufgeregte stille Räume sind, in die er den Betrachter locken will. Zum interesselosen Schauen – und Sein.
Die Bilder verlangen einen entschleunigten Blick, dann öffnen sich die Räume und es beginnt, was man das Abenteuer der Malerei nennen könnte.
Wie aber bringt man diese Bilder mit der Person des Malers zusammen. Auch hier würde sich ein Vergleich mit Cezanne anbieten. Der beginnt in Paris und zieht sich dann in die Einsamkeit der Provence zurück. Noldens Weg begann in der Kunstmetropole Köln und führte über New York nach Reusten.
Es ist nicht leicht dem Maler ein Etikett anzuhaften, seinen Werdegang, seine Lehrer, seine Motive, seine künstlerischen Strategien auf einen Nenner zu bringen. Ich würde Thomas Nolden einen konzeptuellen Romantiker nennen.
Dr. Walter Springer