Der Raum wächst aus der Tiefe des Bildes
Sehr geehrte Damen und Herren,
Zunächst möchte ich mich herzlich dafür bedanken, hier sprechen zu dürfen!In diesen Zusammenhang gehört gleichermaßen, zu Beginn eine aus meiner Sicht notwendige Bemerkung voranzustellen, dazu einen Berufeneren zu zitieren. Heinz Robert Schlette, Philosoph und Theologe, vor allem aber Nestor der deutschen Camus-Forschung, äußerte bei einer Ausstellungseröffnung im Jahr 1984 in Bonn: „Für meine Person muß ich hervorheben, dass ich kein Kunstexperte bin, sondern lediglich ein Amateur, als philosophisch und theologisch an Kunst interessierter Beobachter sprechen und also nur sehr subjektive Gesichtspunkte vorbringen kann.“1 Nun bin ich weder Philosoph noch Theologe, vielmehr Architekt, aber dessen ungeachtet nicht weniger als Schlette an Kunst interessiert.
Was aber ist davon zu halten, zur Eröffnung einer Ausstellung von Werken vorrangig der Malerei unter dem Titel „Der Raum wächst aus der Tiefe des Bildes“ einen Architekten in diese einführen zu lassen? Von der Architektur als der Mutter aller Künste wird hier jedenfalls nicht die Rede sein.
Formal und konstruktiv ist das Gegebensein, die Existenz von Dreidimensionalität nicht nur eine hinreichende, sondern eine notwendige Voraussetzung für Räume. Zweidimensionales als Räumliches anzubieten, darzustellen, scheint nicht möglich - daher auf den ersten Blick widerspruchswürdig.
Die Planenden - und zu diesen gehören Architekten - unter den Bauschaffenden arbeiten primär zweidimensional, ursprünglich auf Papier, heute unter Zuhilfenahme digitaler Mittel und auf mehreren Ebenen (hier und heute: Layer; nur noch vereinzelt erfolgt die Entwurfsarbeit am und mit dem Modell.). Am Ende nehmen die Planenden (ziemlich selbstbewusst) für sich in Anspruch, diese Räume geschaffen zu haben. Doch tatsächlich übergeben sie irgendwann die zweidimensional entwickelte Abstraktion des Raumes denjenigen, die die Planung in die notwendige Dreidimensionalität übersetzen, um diese Räume nutzbar werden zu lassen.
Der Unterscheid zum Maler ist, dass der Maler die Übertragung von der Abstraktion zum realen Gegenstand - hier: zum Bild - selber vornimmt. Der Maler wird als ausführender Handwerker der von ihm entwickelten Abstraktion zum Übersetzer seiner eigenen Ideen. So gesehen ist das Verhältnis des Malers zu dem Ergebnis seiner Arbeit und seiner Übersetzung ein engeres als das des Bauschaffenden zu dem von ihm konzipierten Raum, da dieser eines Dritten als Übersetzer bedarf. Die Beantwortung der Frage, wer von seinem Werk weniger entfremdet ist, wer authentischer wirkt, erübrigt sich.
Grundsätzlich gestehen wir Bildern gleichermaßen einen Bild-Vordergrund wie einen Bild-Hintergrund zu. Dargestelltes erkennen die Betrachtenden als aus dem Hintergrund Hervorragendes, Hervortretendes, als eben im Vordergrund Dargestelltes, Betontes. Der Raum ist in den Bildern dargestellt, dort als solcher wahrnehmbar, ohne dass es zu seiner Betonung des konstruktiven Purismus im Sinne von Piero della Francesca bedarf.
Von daher stellen Malerei und die Darstellung des Raumes keinen Gegensatz dar; ohnehin nicht angesichts der Bilder, die hier ausgestellt sind.
Auf drei Aspekte dieser Ausstellung mit Bildern von Thomas Nolden möchte ich darüber hinaus besonders eingehen - im Sinne des oben formulierten persönlichen Dilettantismus:
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Bilder, die Räume öffnen
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Bilder, die Räume schaffen
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Unfertige Bilder
Bilder, die Räume öffnen
Räume sind definiert anhand von raumbildenden Bauteilen - mindestens sechs an der Zahl. Dabei nutzen wir die Oberflächen dieser multifunktional. Behängen wir diese Flächen mit Bildern möglicherweise mit dem Hintergedanken, leere Flächen zu vermeiden, um dem Ausdruck der eigenen inneren Leere vorzubeugen oder entgegen zu wirken?
Ein Bild auf einer Wand ist - vielleicht nicht anders als die Illusionsmalerei des Barocks mit anderen Mittel - der Versuch, zu zeigen, darzustellen, was hinter der Wand sein kann, was wir dort sehen (wollen).
Stellen wir uns das Bild „Lied der Wiederkehr“ auf einer Wand vor, nicht wie hier, frei im Raum hängend. Dieses Bild ist zugleich Bild und Bild mit Rahmen. „Lied der Wiederkehr“ bedarf keines Rahmens, trägt es doch einen solchen, von dunklen Farben dominierten bereits in sich, der auf einer Wandoberfläche die Abgrenzung zwischen der zentralen, von hellen Farben geprägten Fläche und der Wand definiert. Auf diese Weise ist es uns möglich, mit Hilfe des Bildes durch die Wand hindurch das zu sehen, was hinter dieser sein könnte, was wir uns hinter der Wand denken, vielleicht erhoffen, aus dem im Vordergrund Dargestellten, das uns anspricht, anregt, für uns ableiten.
So trägt „Lied der Wiederkehr“ einen Raum in sich und öffnet zugleich einen Raum. Das Bild, also Thomas Nolden, lädt uns zu einem Blick - wie durch ein Fenster hindurch - in den im Bild geborgenen Raum ein.
„Lebendig ist ästhetische Erfahrung vom Objekt her, in dem Augenblick, in dem die Kunstwerke unter ihrem Blick selbst lebendig werden.“2 formuliert Theodor W. Adorno es in diesem Sinne in „Ästhetische Theorie“.
Bilder, die Räume schaffen
Wir sind es gewohnt, Bilder vor raumbildende Flächen gehängt zu betrachten. Auf solchen Flächen, die hoch und breit sind, große Ausstellungssäle definieren. Daneben existieren kleinere Ausstellungsräume, die wir Kabinette nennen.
Hier ist es anders. Hier bilden Bilder Räume im Raum. Das freie Hängen von Bildern ist keine Erfindung von Thomas Nolden, keine der Neuzeit, um mit einfachen Mitteln große Räume in leichter handhabbare und für den Menschen begreifbare Volumina zu gliedern, in denen wir uns als Nutzer, im konkreten Fall als Betrachtende von Kunst, nicht verloren fühlen.
Diese Art der Hängung und Präsentation beinhaltet die Aufforderung, den eigenen Standort der Betrachtung kontinuierlich zu verändern, sich aus dem großen Raum in den kleinen hinein und aus diesem wieder heraus in den großen zu begeben. Denn: Die Vielfalt und Mehrschichtigkeit der Räume im Raum kann nicht erkannt werden, wenn wir uns ausschließlich auf das einzelne Bild konzentrieren. Mit dem Schritt zurück, mit einem Schritt zur Seite für den Blick in den gesamten Raum ist die Möglichkeit eröffnet, einerseits Zusammenhänge, aber ebenso gut andererseits Abgrenzungen zu erkennen. Schon mit dem Eintritt in den Ausstellungssaal bietet sich diese Gelegenheit. Die Gegenprobe ist der andere diagonale Blick von meinem aktuellen Standpunkt aus.
Lassen wir uns in diesen Räumen der Bilder auf den jeweiligen Bilderraum ein, sind wir möglicherweise beim unmittelbaren, fokussierten Blick auf die Bildfläche irritiert. Öffnet sich letztendlich beispielsweise bei den hier ausgestellten, eher dunkel gehaltenen Bildern wie „Transition“ oder „Verpuppung“ doch kein Raum mehr? Ist letztendlich nur etwas auf der für den Maler Thomas Nolden typischen maltechnischen Grundstruktur gegenständlich Dargestelltes zu erkennen?
Oder, und zu dieser Interpretation neige ich, sehen wir vor einem unendlich tiefen Raum die Details der Realität dargestellt - wenn auch abstrahiert, komprimiert, auf das Wesentliche reduziert, gewissermaßen als Platzhalter - wie bei dem Bild „Stadt Mensch Meer“? Vielleicht vergleichbar mit dem Moon shot, jener ikonischen, 1968 von Apollo 8 aus gemachten Aufnahme, auf der der Blaue Planet jenseits des Mondhorizontes vor dem Hintergrund des unendlich schwarzen Alls zu sehen ist.
Auf diese Wiese erhält das gegenständlich Dargestellte exemplarischen Charakter, kommt diesem Allgemeingültigkeit zu, losgelöst von einem konkreten Ort und Zeitpunkt. Es geht Thomas Nolden dabei nicht um eine politische, eine ideologische oder soziale Artikulation, sondern um den Ausdruck eines grundsätzlich menschlichen Problems, letztendlich - Ob ihm das bewusst ist? - um die conditio humana.
Warum dieser unendlich tiefe Raum überhaupt erkannt wird, was seine Wahrnehmung begründet und ausmacht, seit wann dieser existiert, wie er geworden ist, möglicherweise geschaffen wurde, was aus ihm wird, soll und muss an anderer Stelle erörtert werden. Thomas Nolden gelingt es, diesen Raum darzustellen.
Unfertige Bilder
Die Bilder von Thomas Nolden, die hier ausgestellt sind, lassen wiederkehrend eine Struktur erkennen: eine erste, unterste, grundlegende Ebene aus farbigen Flächen innerhalb eines geschlossenen Farbraums(!). Bei einigen sind dies wirklich Flächen, bei anderen dicht gesetzte, kräftige Pinselstriche. Auf dieser Grundlage arbeitet Thomas Nolden weiter, formuliert verschiedene Motive aus. Oder zeigt er uns nicht eigentlich mehrere Bilder in einem Bild? Schließlich erkennen wir hinter dem obersten, dem vielleicht letzten Bild, immer noch die Rudimente des Übermalten.
Ein Teil der Bilder, die hier gezeigt werden, sind unfertige Bilder. Thomas Nolden erlaubt uns auf diese Weise einen Blick auf sein konkretes Schaffen, ohne dass wir in seine Ateliers kommen müssen. Diese unfertigen Bilder sind nicht Fragment, sondern zeigen den aktuellen Zustand der Bearbeitung, der Bildentwicklung.
Erkennbar ist - nicht zuletzt anhand der Filme -, dass Thomas Nolden Farbschicht auf Farbschicht aufbringt. Um die Terminologie der modernen Bildbearbeitung zu bemühen: Er legt Layer über Layer, Bild über Bild. Wobei ein neuer - gemalter - Layer anders als im Zuge digitaler Planung bei Nichtgefallen nicht einfach mit einem Tastenbefehl gelöscht werden kann.
Was im Einzelnen kommt, was ausgehend von dem, was wir gerade sehen, werden wird, können wir nicht wissen, weiß Thomas Nolden nicht. Und was übermalt ist, kann nicht zurückgeholt werden. Malen bedeutet, irreversible Entscheidungen zu treffen.
Ist deswegen das Unfertige nur halb so viel wert, wie das Abgeschlossene?
Adorno schreibt in der unmittelbaren Fortsetzung des bereits zitierten Textauszugs: „Durch betrachtende Versenkung wird der immanente Prozeßcharakter des Gebildes entbunden. Indem es spricht, wird es zu einem in sich Bewegten. Was irgend am Artefakt die Einheit seines Sinnes heißen mag, ist nicht statisch, sondern prozessual, Austrag der Antagonismen, die ein jegliches Werk notwendig in sich hat. Analyse reicht darum erst dann ans Kunstwerk heran, wenn sie die Beziehung seiner Momente aufeinander prozessual begreift, nicht durch Zerlegung es auf vermeintliche Urelemente reduziert. Daß Kunstwerke kein Sein, sondern ein Werden seien, ist technologisch faßbar. Ihre Kontinuität ist teleologisch und fähig vermöge ihrer Unvollständigkeit, vielfach ihrer Unerheblichkeit. Durch ihre eigene Beschaffenheit vermögen sie in ihr Anderes überzugehen, setzen sich darin fort, wollen darin untergehen und determinieren durch ihren Untergang das auf sie Folgende. Solche immanente Dynamik ist gleichsam ein Element höherer Ordnung dessen, was Kunstwerke sind.“3
Auf diese Weise wird zudem deutlich, dass ein Bild nicht umgehend, nicht sofort ein Bild ist, ein Bild nicht in dem Moment schon fertig ist, in dem dem Maler eine Idee, ein Bild von einem Bild aufscheint. Bilder brauchen Zeit, um Bild zu werden.
Gefragt, wie er auf sein vor 40 Jahren erschienenes Buch „Die Entdeckung der Langsamkeit“ blickt, beschreibt Sten Nadolny in der Ausgabe der ZEIT vom
5. Januar 2023 Grundsätzliches, also über die Literatur als einer der Künste Hinausreichendes: „»Langsamkeit« konnte für eine Zeit stehen, die man für Nachdenken und Beobachtung, für das Vorbereiten wichtiger Entscheidungen, für jegliches kreative Tun braucht, auch für den glücklichen oder sogar rettenden Fund am Wegesrand, wenn man das Auge und die Zeit für scheinbar Nebensächliches hat: Vieles (aber nicht alles) im Umgang mit Menschen und Dingen ist notwendig langsam. Gerechtigkeit, Forschung, Kursbestimmung, Qualität, Bauen, Kunst, Zärtlichkeit und vieles Menschliche mehr, sie vertragen kein eiliges Hopphopp.“4
So gesehen könnte man meinen, Kunst und das Werden von Kunst sei aus der Zeit gefallen. Das ist nur vermeintlich so; vielmehr können wir für unseren Alltag, für die conditio humana aus dem Werden von Kunst im Allgemeinen, von den hier gezeigten Bildern im Besonderen lernen. Wenn ein Bild fertig ist, muss, bevor das nächste Bild darübergelegt werden kann, die Farbe trocknen. Nur der Neoliberalismus würde eine solche Zeit der Untätigkeit als Verlust, als Defizit bezeichnen. Innerhalb von Prozessen innehalten zu müssen, um das Zwischenergebnis zu analysieren und wirken zu lassen, hilft uns zu erkennen, wie wir uns als Schaffende in den uns gemäßen Kontext stellen können.
Auf meine Frage hin, wann für ihn ein Bild fertig ist, meinte Thomas Nolden, ohne zu zögern: „Wenn es mich überrascht!“
Der Versuch, diesen Moment zu objektivieren, ist ein sinnloser, ein Ansinnen ohne Aussicht auf Erfolg. Dieser Moment der Überraschung, des Staunens ist und bleibt individuell angelegt. Dieser Moment ist für denjenigen, der auf diesen Moment mehr oder weniger bewusst hingearbeitet hat, absolut. Für Dritte lässt sich das Werden dieses Bewusstseinzustands nicht erklären. Damit ist es nicht reproduzierbar.
Denjenigen, die diese Frage dennoch abschließend diskutiert und beantwortet sehen möchten, sei die Lektüre eines schmalen Bandes des bereits zu Beginn zitierten Heinz Robert Schlette mit dem Titel „Mit der Aporie leben“ empfohlen: „Möglicherweise - ich kann und will das nicht ausschließen - gibt es immer noch oder nach wie vor Philosophen (und gewiß auch andere Menschen, wobei es sich nicht immer um sogenannte Wissenschaftler handeln muß), die alle Probleme für lösbar und alle Fragen, soweit sie stellbar sind, auch für beantwortbar halten.“5
So bleiben uns Überraschung und Staunen!
Wir haben am vergangenen Freitag festgestellt, dass hier drei Ausstellungen in einer gezeigt werden. Es gibt die Bilder, die schwerpunktmäßig Landschaft und Landschaften zeigen. Dann sind dort diese Bilder, die raumbildend neben einem Auftakt in Zuversicht nicht zuletzt aus gegebenem Anlass nachdenklich ernste Töne anschlagen. Und es sind die unfertigen Bilder zu sehen.
Daneben werden Filme gezeigt, die die Arbeitsweise von Thomas Nolden verdeutlichen. Die Einbindung des Mediums Film ist in der Kunst nichts Neues, in der aktiv von einem Maler betriebenen Kombination mit seinen Werken allerdings nicht alltäglich. Dem Betrachter können diese Filme Hilfe sein - auch aufgrund der Verknüpfung mit Werken anderer Künste -, das ein oder andere Elemente in den Bilder oder die Bilder als in sich geschlossene Werke nachzuvollziehen, oder aber im Sinne von Adorno einen Weg zu finden, noch weiter, noch tiefer als nur auf diese Bilder, vielmehr in den (Erfahrungs-)
Raum hinter diesen Bildern zu schauen. Die Erweiterung der Darstellung von Bildern - es geht hier nicht um eine weitere Form der Bildbearbeitung - erleichtert den Zugang und ermöglicht ein erweitertes Verstehen im ursprünglichen Sinne des Wortes.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen bei Betrachtung von, in der Beschäftigung und der Auseinandersetzung mit den Bildern von Thomas Nolden Ihre eigenen Momente des Erkennens und Staunens, geht es doch immer wieder darum, neugierig zu sein - und es zu bleiben. Thomas Nolden und seine Bilder laden Sie gerade dazu ein!
Ludger Dederich, Bonn / Rottenburg am Neckar, im Januar 2023
1 Heinz Robert Schlette, Bei der Ausstellung im Collegium Albertinum, Bonn, 1.12.1984; in: Heinz Robert Schlette, Zehn Texte zum Werk des Kölner Künstlers Walter Prinz, Bonn 2013; S. 21
2 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt / Main 1973 / 2019, S. 262
3 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt / Main 1973 / 2019, S. 262 / 263
4 Sten Nadolny, Die Wiederentdeckung der Langsamkeit; in: DIE ZEIT, Hamburg, Ausgabe vom 5. Januar 2023
5 Heinz Robert Schlette, Mit der Aporie leben, Bonn 2021