Einführung in „Flusslandschaften“ von Herbert M. Hurka

Kunstverein Schallstadt, 18. November 2018

Sehr geehrte Damen und Herren!

Das Bild sieht aus wie ein verschwommener Druck und zeigt einen Mann in dunkler Kutte mit weißem Kragen, der an einen französischen Geistlichen im 17. oder 18. Jahrhundert erinnert. Unter dem Titel „Edmond de Bellamy“ wurde es im Oktober  bei Christies versteigert. Wie üblich bezeichnet die Signatur in der rechten unteren Ecke den Urheber. Nur: Da ist kein Name zu lesen, sondern eine mathematische Formel aus 33 Zeichen, die sich aus Operatoren, Zahlen, Buchstaben und Klammern zusammensetzt, was zwar einen Urheber bezeichnet, aber kein Künstlersubjekt aus Fleisch und Blut, sondern den Algorithmus, der dieses Objekt produziert hat.  

Es sei kurz erwähnt, wie diese produktive Künstliche Intelligenz funktioniert: Zwei konkurrierende Teile eines Algorithmus – ein sogenannter „Generator“ und ein sogenannter „Discriminator“ treten sozusagen gegeneinander an. Auf der Basis eines Datensatzes aus 15 000 Portraits ab dem 14. Jahrhundert erzeugt der Generator Bilder, die der Discriminator so lange kontrolliert und zurückweist, bis er überlistet ist und eins von all diesen künstlich erzeugten Bildern für ein von einem Menschen geschaffenes Werk hält.

Fahndet man dahinter nun tatsächlich nach Menschen, so stößt man auf ein Team aus drei 25jährigen Programmierern in Paris, die unter dem Kollektivpseudonym Obvious firmieren, wobei folgendes Statement wichtiger sein dürfte als die Identität dieser Gruppe. (Zitat):  "Menschen sollen auf die fertige Arbeit bei dem ganzen Prozess so wenig Einfluss wie möglich haben.“ Und weiter: "Kreativität ist nicht nur etwas für Menschen."

Dass der kreative Mensch sich von seinem Produkt immer mehr trennt, beziehungsweise getrennt wird – die irreversible Bewegung, die aktuell in der algorithmischen Autorschaft von „Edmond de Bellamy“ gipfelt, beginnt bereits mit der Erfindung der Fotografie ca. 1830, die als erstes technisches Medium nicht nur  in Konkurrenz zur Malerei tritt, sondern, was entscheidender ist, das Monopol der Malerei für die Abbildung der Welt beendet. Auch wenn  eine Wechselbeziehung zwischen der Malerei und der Fotografie sich bis zum heutigen Tag durchzieht, so war Malerei trotzdem nie mehr, was sie einmal war.  

Für die auf Dauer irritierte Malerei allein die Fotografie verantwortlich zu machen, wäre fraglos zu kurz gegriffen. Wenn die Kunst wie auch die Religion, die Politik und die Philosophie als die dominierenden Systeme der Welterklärung sich legitimieren und um ihre Bedeutung kämpfen muss, so liegt das auch an der Expansion der Technik und der Naturwissenschaften. Diese Entwicklung, die in der Kulturtheorie als Krise der Repräsentation geführt wird, schlug sich in der Malerei in dem Wechsel von der Repräsentation zur Realität nieder. Anstatt weiterhin abzubilden machte die Malerei ihre eigenen Mittel zu einem privilegierten Thema, nämlich Punkt, Linie und Farbe. Ob nun jede Art der Abstraktion ein Zeichen der Krise oder ein Zeichen der Befreiung von der Abbildung ist, kann man getrost dahin gestellt sein lassen.  

Selbstredend ist nicht außer Acht zu lassen, dass sich seit Duchamp und dem Dadaismus neue Kunstmedien herausgebildet haben wie Objektkunst, Performance, Land-Art, Body-Art, bis schließlich das Publikum selbst zum Kunstwerk wurde, während ab 1945 Film, Video und computerbasierte interaktive Installationen die Welt wieder repräsentieren, und zwar in einer Vielschichtigkeit, mit einer Flexibilität und Genauigkeit, wie sie die Malerei nie leisten konnte.

So ungefähr wäre das allgemeine, wenn auch nur kunstbezogene Feld abzustecken, in dem die Malerei der Postmoderne sich zu behaupten hat. Worin immer sie einmal als selbstverständlich erschien, das ist weg. Neu allerdings ist auch, dass sie kein absolutes Medium mehr darstellt, sondern dass ihre Relevanz sich weitgehend aus dem Verhältnis – das heißt: relativ – zu ihrer kontextuellen Umgebung ableitet.  

Nicht zuletzt zeigt sich an Thomas Noldens „Flusslandschaften“, woraus die in jedem Jahrzehnt mindestens einmal totgesagte Malerei bis heute nicht nur ihre Berechtigung, sondern auch ihre Brisanz bezieht. Um es direkt auf den Punkt zu bringen: Das konkretisiert sich in der unmittelbaren, körperlichen Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, in der unauflöslichen Synthese, dem emergenten Zusammenspiel von Auge, Hand, Psyche, Werkzeug und Materialien und der Außenwelt – so intensiv, so unmittelbar und so verwoben mit allem, was das Subjekt selbst ist, und genau darum sich mit keinem technischen Medium so erreichen lässt.  

Kaum sonstwo wirkt sich die Dialektik aus Nähe und Distanz zum Sujet so ungebrochen aus wie in der Portrait- und der Landschaftsmalerei, und wenn Thomas Nolden sich letzterer rückhaltlos verschreibt, so ist es keineswegs ein Zufall, dass er gerade beim Impressionismus ansetzt, wie es vor allem an den Großformaten zu sehen ist. Beim Impressionismus nämlich ist das Verhältnis zwischen Maler und Sujet – wie auch hier bei diesen Landschaften – noch so stimmig ausbalanciert, so dass weder auf der Seite des wahrnehmenden, malenden Subjekts noch auf der Seite der äußeren Realität ein Überschuss entsteht. Wie das zu verstehen ist, zeigt sich an Beispielen wie dem Surrealismus, der als Illustration des Unbewussten extrem subjektiv ist, ebenfalls am Expressionismus, der den individuellen, emotional gesteuerten Ausdruck anstrebt, wohingegen für jeden realistischen Ansatz das Objekt als entscheidender Attraktor wirkt.  

Im Unterschied zu den Impressionisten, die eine Landschaft zum Anlass nehmen, das Licht zu analysieren und zu inszenieren, intendiert Thomas Nolden, eine Landschaft beim Malen als einen Sehraum zu erschließen. Wenn er diesen in Schwärme bunter Striche auflöst, sucht er nach stets neuen Möglichkeiten, Hintergrund und Vordergrund zu differenzieren, wobei die gestrichelten Passagen nicht nur eine zusätzliche – malerische –  Ebene im Binnenraum des Gemäldes installieren, sondern sich auch seine besondere, individuelle Raumwahrnehmung in einen unverwechselbaren Code zu übersetzen.  

Dass diese Landschaften so intensiv und lebendig herüberkommen, so verdankt sich das vor allem der Tatsache, dass sie plain air gemalt sind, also immer in freier Natur. Wenn viele Impressionisten, was vielleicht weniger bekannt sein dürfte, sehr schnell das neue Medium der Fotografie als Skizzenersatz genutzt haben, so mag dies eine gewisse Plausibilität darin besitzen, dass die Fotografie ein Medium des Lichts ist und daher dem Programm des Impressionismus zumindest entsprach. Thomas Nolden dagegen liegt an einer unmittelbarsinnlichen  Naturerfahrung, der zunehmenden Sensibilisierung für wechselnde Farben und Luftverhältnisse, was natürlich keineswegs die Interpretation des jeweiligen Lichts ausschließt.

Wie Nolden aus einer Landschaft einen in die Abstraktion übergehenden Raum aufbaut, wie er dazu Landschaft chiffriert, lässt sich verdeutlichen an „Frankfurt Köln Frankfurt“. Ein blau angedeuteter horizontaler Streifen im Vordergrund bezeichnet einen Fluss, dahinter wildwachsende Äste auf der Diagonalen als graphischer Kontrapunkt – übrigens ein Selbstzitat aus den Anfängen seiner Naturmalerei – bilden eine zweite Raumqualität, bevor ein abstrakter Hintergrund nunmehr gänzlich ohne landschaftliches Kennzeichen sich im Dunkel verliert. Als Irritation unserer angelernten zentralperspektivischen Raumwahrnehmung verschließen die fast parallel sich aneinander reihenden Pinselstriche in Hellblau und Hellgrün zuletzt den suggerierten Bildraum. Das könnte die Abstraktion eines Gebirgszugs am Horizont sein oder Bäume und Himmel, aber auch etwas, das mit dem ursprünglichen Sujet außer den Farben nichts mehr zu tun hat, etwas Herniederhängendes, Schwebendes, vielleicht eine Art Vorhang, der als abstraktes Feld die gewohnte Staffelung der Bildebenen vom Vorder- zum Hintergrund konterkariert.  

Diese Oszillation ist also nicht nur ein bildimmanentes durch diese besondere Malweise  erzeugtes Phänomen – einer der Bildinhalte sozusagen –, sondern auch ein Effekt des Sehens, des Auges selbst, welches derartige Reize als Oszillation akkommodiert. Auch wenn gerade dieser Eindruck einen solchen Anschein nahelegen könnte – Nolden hat ausgewiesenermaßen nichts am Hut mit dem Pointillismus, etwa mit Georges Seurats Adaption einer wissenschaftlich begründeten Wahrnehmungsphysiologie, derzufolge ein Bildzusammenhang, der aufgelöst ist in einer Masse irisierender Punkte, sich im  Auge zu einer geschlossenen Form zusammensetzt. Wenn die Landschaft in dieses Gestrichel zerhäckselt ist, so wird es sich dabei kaum um ein von außen zugesetztes Attribut handeln, sondern das entwickelt sich allein aus dem Motiv heraus, gewinnt während des Malens zunehmend an Autonomie und gibt dem produktiven Zufall Raum. Es scheint nämlich, als malten diese Bilder sich ab einem bestimmten Stadium selbst weiter.  

Wenn „Flügelschlag“ mit der Horizontlinie das zwar prägnanteste Zeichen zur Identifikation einer Landschaft erkennen lässt, während die Details in einem Farbüberschwang zerstieben, so radikalisiert sich auf dem Bild „Lichtung“, was gerade über die sukzessive Verselbstständigung des Malprozesses gesagt wurde.

Der Titel assoziiert den Lichteinfall in einen schattigen Wald. Die Vegetation hellt sich freundlich auf, mehr aber auch nicht, denn auf etwaige Konturen verzichtet Nolden bei diesem Bild. Mehr noch als das Motiv aufzulösen, malt er das Sujet komplett um, und zwar bis dahin, dass die Struktur der mit den breiteren Pinseln ausgeführten oberen Bildhälfte in eine ornamentale Ordnung überzugehen scheint, mit der das impressionistische Register sich mit dem des Jugendstils überschneidet, und sogar an manche Landschaften Gustav Klimts erinnert.

Jeder Tag ist anders. Das veranschaulicht die zweite, ältere Werkgruppe aus den  Kleinformaten, auf denen fast jede Malexkursion mit Ort und/oder Monat respektive Jahreszeit dokumentiert ist und damit archiviert für das Gedächtnis. Neckar und Jagst sind mehrfach erwähnt, ein „Mond im Juni“ wie auch ein „Wintermorgen“.  Diese Genauigkeit, die ebenso Objektivität signalisiert wie die persönliche Datierung von Tagebucheinträgen, wirft ein Licht auf die nahe, innige Beziehung dieses Künstlers zu „seiner“ Landschaft.  

Das hat auch den biografischen Hintergrund, dass der in Köln geborene Thomas Nolden nach seiner Jugend in den Großstädten Köln, Frankfurt oder New York einen massiven Schnitt vollzog, als er um die Jahrtausendwende in das  kleine schwäbische Dorf Ammerbuch bei Crailsheim zog, damit das immer wichtiger werdende Familienleben gegenüber der Malerei nicht zu kurz kommen sollte. Doch war das nicht allein die Motivation, sich aus der urbanen Hochgeschwindigkeit zurück zu ziehen, sondern er beabsichtigte mit diesem Rückzug auch,  zu überprüfen, was es mit seiner frühen Verklärung der Natur und Landschaft auf sich hatte. Diese Selbsterforschung konnte nur in einem Medium funktionieren: der Malerei.  

Eine Möglichkeit, das zu verifizieren bot das Beispiel des symbiotischen Verhältnisses zwischen Landschaft und Tier. Da wirkt es nahezu subversiv, wenn er dieses unauffällige, unspektakuläre und zum Sinnbild der Harmlosigkeit und Dummheit abgewertete, weil still vor sich hin weidende Nutztier Schaf zum Thema wählt. In dieser Ausstellung zitiert das Bild „Großes Schaf“ die von 2004-2007 gemalte und lange über diese Jahre hinaus viel beachtete Serie.  

Das kleine Format begünstigt ein schnelleres Malen bei der Umsetzung flüchtiger Eindrücke.  Indem die kleineren Bildflächen sich mit wenigen Pinselstrichen homogener bearbeiten lassen, zahlen sie sich auch beim Mischen der Farben aus, wenn es darum geht, die Lokalfarben so direkt wie möglich auf der Leinwand zu wiederholen, um jenen Idealzustand zu erreichen, dass das Kolorit der Natur kongruent wird mit dem auf dem Bild, bis es scheint, als malte die Natur sich durch den Künstler hindurch selbst.  

Mit dieser bewusst-unbewussten Verflochtenheit des Malers mit seinem Sujet stellt sich naturgemäß die Frage nach der Authentizität der Malerei. Indem sich am Malen das Auge, die Hand, ja mit der ganzen Motorik der gesamte Körper beteiligt, vor allem aber kein technischer Filter zwischengeschaltet ist, erweitert sich die ursprüngliche Frage, was die Malerei allgemein darstellt – beziehungsweise darstellen kann, um die Frage, wo und wie sie sich im Verhältnis zu den technischen Medien, die bekanntlich immer körperloser werden, positionieren kann. Denn wie es aussieht, verwandelt sich diese Körperlichkeit, anstatt immer obsoleter zu werden, nicht nur in einen Vorteil, sondern viel mehr noch in einen ernst zu nehmenden Widerstand gegen jene subjektfreie Kunst ohne Autor, von der am Anfang die Rede war. Mit dieser Gegenüberstellung ist jedoch nicht beabsichtigt, das eine gegen das andere auszuspielen. Was die technischen Medien – und das soll hier nun allein für die Kunst gelten – provozieren, ja  provozieren müssen, manifestiert sich im Anspruch und dem Antrieb, sich mit ihnen auseinander zu setzen, sich auf eine Spannung einzulassen, der sich insbesondere die Malerei nie in ein rückwärtsgewandtes Refugium entziehen sollte. Schließt man unter diesen Bedingungen die Bilder aus diesen vielfarbigen, rhythmisierten Pinselstrichen mit dem Begriff der Auflösung kurz, wie er bei digitalen Bildgebungsverfahren verwendet wird, so handeln diese Arbeiten plötzlich nicht mehr von einer Wiederbelebung impressionistischer Parameter, sondern davon, wie eine zeitgemäße Malerei auf die Verpixelung der Umwelt mit ihren genuinen Mitteln antworten kann, vor allem ohne das, woraus sie seit jeher ihre Stärke bezieht, aufs Spiel zu setzen.  

Download PDF Einführung in „Flusslandschaften“ von Thomas Nolden

Herbert Hurka über Thomas Nolden.pdf